Das Bild mit dem Titel “New York 5th Avenue”, das in Frau Schulte-Fortkamps Büro an der Wand hängt, könnte ohne weiteres als ein Werk abstrakter Gegenwartskunst durchgehen. Erst auf den zweiten Blick fällt dem sorgfältigen Betrachter auf, dass die farbigen Flecken und Muster nicht der kreativen Intention eines Künstlers entsprungen sind, sondern aus einer Aneinanderreihung akustischer Spektren resultieren, die damit die sich zeitlich verändernde Geräuschkulisse der 5th Avenue abbilden. “Dieses Bild beinhaltet alle Informationen, die wir brauchen, um etwas über die 5th Avenue aus unserer Sicht zu sagen. Was wir hier sehen, beziehungsweise was man eigentlich auch schon hört wenn man es als Psychoakustiker betrachtet, ist New York. Man hört die Glocken läuten, man hört die Busse fauchen, stampfen und den Verkehr rauschen. Eigentlich kann jeder einzelne Punkt psychoakustisch analysiert werden”, erläutert Schulte-Fortkamp.
Brigitte Schulte-Fortkamp ist Professorin für Psychoakustik und Lärmwirkung an der TU Berlin am Institut für Strömungsmechanik und Technische Akustik. Das Bild “5th Avenue” ist ein Beispiel für eines der Werkzeuge, mit denen sie praktisch arbeitet, wenn es darum geht, Geräuschsituationen abzubilden und auszuwerten. Was in Schulte-Fortkamps Erläuterungen des Bildes relativ einfach klingt, nämlich die Rückführung von Höreindrücken auf physikalisch messbare Schallspektren, ist in Wirklichkeit ein hoch komplexer Prozess, dessen Verständnis die Kernaufgabe der Psychoakustik darstellt. Tatsächlich erfordert das, was akustisch messbar ist, und das, was in der Wahrnehmung empfunden wird, zwei voneinander zunächst völlig unterschiedliche Beschreibungsweisen. Physikalischen Größen, wie dem Schalldruck, der Frequenz oder der Bandbreite, stehen dabei eine Reihe von psychoakustischen Parametern gegenüber, mit deren Hilfe die verschiedenen Dimensionen eines Hörereignisses charakterisiert werden können. Dazu zählen die Lautheit, das heißt die empfundene Lautstärke, die Schärfe, die verbunden ist mit der Reinheit der Klangfarbe, die Tonheit, d.h. die Höhe des Tons, und die Rauhigkeit, die zum Beispiel bei brummenden Motorengeräuschen zum Tragen kommt.
Wie diese Parameter mit den physikalisch messbaren Größen zusammenhängen, muss empirisch auf der Grundlage psychoakustischer Tests in der Befragung von Testpersonen ermittelt werden. An dieser Stelle wird deutlich, dass das Feld der Psychoakustik auf verschiedene Methoden aus ganz verschiedenen Fächern angewiesen ist, um sowohl die physikalische Beschreibung als auch die individuelle Wirkungsweise unseres Gehörs gleichermaßen zu berücksichtigen. Schulte-Fortkamp, selbst studierte Soziologin, betont: “Das Gebiet stellt sich immer interdisziplinär dar: im Spannungsfeld von Soziologie und Psychologie auf der einen Seite für die Erklärungszusammenhänge. Auf der anderen Seite ist es die Physik, auch die Psychophysik, die eine Rolle spielt. Von der Psychologie her kommen die Verfahren und Bewertungsprozesse für das, wie wir die Perzeption messen wollen.”
Frau Schulte-Fortkamps Hauptinteresse geht allerdings über die reine Erforschung psychoakustischer Zusammenhänge hinaus. Sie versucht nicht nur, die subjektive Wirkung bestimmter Geräuschumgebungen zu verstehen, sondern interessiert sich insbesondere dafür, wann Geräusche als Störung empfunden werden und wie die negative Wirkung von Lärm reduziert werden kann. Hier kommt der Begriff der “Soundscape“ zum Tragen, der in den späten 70er Jahren vom kanadischen Komponisten und Klangforscher R. Murray Schafer geprägt wurde. Die Soundscape eines Ortes bezeichnet die charakteristische Gesamtheit seiner akustischen Erscheinungen, so wie sie von einzelnen Personen oder auch Gesellschaftsgruppen wahrgenommen wird. Was zum Beispiel an der 5th Avenue in New York der rauschende Verkehr und die hupenden Autos sind, würde entsprechend für den Berliner Grunewald das Bellen von Hunden, Vogelgezwitscher und das Rauschen der Bäume sein. Nachdem das ursprüngliche Interesse an Soundscapes aus der Klangforschung kam, wird der Begriff erst seit 1997, auf Initiative von Frau Schulte-Fortkamp, in der Community Noise Forschung thematisiert. Der Einfluss der Soundscape, also der akustischen Umgebung, auf das menschliche Wohlbefinden, auf die Akzeptanz von Orten und deren Aufenthaltsqualität hat dem Begriff seitdem zu so großer Aufmerksamkeit verholfen, dass aktuell eine Internationale Norm verabschiedet wird, an deren Erarbeitung Schulte-Fortkamp zusammen mit weiteren Vertretern aus 47 Nationen maßgeblich beteiligt ist.
In der Praxis geht es aber nicht nur um die Beschreibung und Ermittlung von Soundscapes, sondern auch darum, auf der Grundlage einer solchen Beschreibung konkrete Maßnahmen einzuleiten, um die akustische Situation an bestimmten Orten zu verbessern. Dabei ist es insbesondere wichtig, eng mit den Betroffenen zu kooperieren und deren Erfahrungen als Grundlage für eine akustische Analyse zu nehmen. Wie so etwas aussehen kann, erläutert Schulte-Fortkamp an ihrem Projekt des Nauener Platzes in Berlin, dessen akustische Umgestaltung 2012 mit dem European Soundscape Award ausgezeichnet wurde.
Der Nauener Platz im Berliner Wedding liegt zwischen zwei Hauptverkehrsstraßen und war vor seiner Umgestaltung als Drogenumschlagplatz bekannt. Ein existierender Spielplatz konnte vor diesem Hintergrund nicht mehr genutzt werden und auch ältere Anwohner mieden den Platz aus Angst vor Übergriffen. Die Änderungen, die die akustische Situation des Platzes verbessern sollten, mussten auf diese Situation angepasst erfolgen, also sicherstellen, dass der Platz einsehbar ist. “Die Idee war, eine Art öffentliches Wohnzimmer zu gestalten. Es handelt sich um einen Bereich in Berlin, der sozial und multikulturell besonders geprägt ist. Zudem grenzt eine Seniorenwohnanlage an den Platz. Es war eine interessante Konstellation, auch in Bezug auf die Frage der Zusammenführung und Akzeptanz, es war schon eine Herausforderung. Es hat drei Jahre gedauert und das Ergebnis war sehr zufriedenstellend.”
Die Lärmbelastung konnte schließlich durch einen Gabionenberg, also eine Schallschutzwand, an einer Seite des Platzes reduziert werden. Außerdem wurden Hörbänke aufgestellt, die einen Schallschutz in Bezug auf den Straßenlärm bieten und an denen man auf Knopfdruck Geräusche hören kann. Diese Geräusche wurden im Rahmen einer Magisterarbeit durch umfangreiche Tests und Befragungen der Anwohner vor Ort ausgesucht. Trotz der großen kulturellen und sozialen Unterschiede war das Ergebnis dieser Befragung erstaunlich einheitlich: “Es haben sich alle Naturgeräusche gewünscht. Wir hatten andere Befürchtungen vorher, dass jeder zu jeder Zeit seinen eigenen Sound hören will. Ich weiss nicht warum, aber alle haben sich auf Naturgeräusche, Vogelstimmen und Bachplätschern geeinigt”, beschreibt Schulte-Fortkamp. Außerdem wurde das existierende Ballspielfeld mit einem weichen Boden ausgestattet, um auch von dort die akustische Belastung zu reduzieren. Natürlich sind einer solchen Umgestaltung aber auch praktische Grenzen gesetzt: “Leider konnten wir kein Gitter installieren, das auch entsprechend sanft klingt. Das Ballspielfeld wird immer noch gerne genutzt, um richtig Zoff zu machen in der Mittagszeit. Es wäre auch ungewöhnlich, wenn nicht. Wenn jetzt alle da auf Zehenspitzen gehen würden, weil die Seniorenanlage Mittagsruhe hat – das klappt nicht.”
Das Projekt ‘Nauener Platz’ stellt damit eine prototypische Anwendung der Lärm- und Soundscapeforschung dar. “Das Typische daran ist, über die Wahrnehmung der Betroffenen die kritischen akustischen Bereiche aufzuzeigen und dann gemeinsam Veränderungen zu beschließen. Das ist aber immer unter dem Gesichtspunkt der psychoakustischen Bewertung zu reflektieren.” Durchgeführt wurden am Nauener Platz auch psychoakustische und normale Mappings, das heißt es wurden Lärmkarten erstellt, auf denen man sehen kann, was sich durch die Umstrukturierungen nicht verändert hat. “Der Schalldruck geht zurück, aber das Muster des Geräusches bleibt gleich und insofern muss man überlegen, ob die Störung wirklich noch da ist, wie man sie überspielen kann und so weiter. Das klappt sehr gut”, erklärt Schulte-Fortkamp. Der Anwendungsbereich der psychoakustischen Methode reicht offenbar weit über öffentliche Plätze hinaus und kann in Schulen, Krankenhäuser und Einflugschneisen zum Einsatz kommen. Von der EU wird der Kampf gegen Lärm mittlerweile durch eine Umgebungslärmrichtlinie unterstützt und in vielen Städten gibt es Lärmaktionspläne, um die negativen Auswirkungen von Lärmbelastung auf die Gesundheit einzudämmen. Daneben kommt sogenanntes Sounddesign industriell an vielen Stellen zum Einsatz, wenn es darum geht, Produktgeräusche auf die Hörgewohnheiten der Kunden anzupassen, beispielsweise bei Innengeräusche von Automodellen.
Interessant ist dabei, dass immer die individuelle Wahrnehmung im Mittelpunkt steht und stehen muss, was die Forschungsergebnisse abhängig von ihrem jeweiligen kulturellen und sozialen Kontext macht. Was in Deutschland als Lärm empfunden wird, mag beispielsweise in Spanien noch vollkommen im Akzeptanzbereich liegen. Die Kontextabhängigkeit der Ergebnisse und der enge Bezug auf menschliche Erfahrung sind zwei Eigenschaften der Psychoakustik und Soundscapeforschung, die einen Kontrast zu anderen naturwissenschaftlichen Forschungsfeldern aufmachen und stattdessen eine vermeintliche Ähnlichkeit zu künstlerischer Arbeit herstellen könnten. Frau Schulte-Fortkamp sieht den Versuch eines solchen Brückenbaus trotzdem kritisch: “Ich finde es nicht einfach, die Verbindung zur Kunst herzustellen. Natürlich können sich Kunst und Psychoakustik auf der Wahrnehmungsschiene treffen: Wenn ich über Geräusche rede, dann rede ich über Wahrnehmung. Ich rede über Akzeptanz oder Störung. Und ich rede letztlich über die Berechnung der Störung. Die Kunst macht das glaube ich anders.” Ähnlich sieht Frau Schulte-Fortkamp auch die Beziehung zur Musik: „Ich mache selten Arbeiten, die auch die Musikwahrnehmung betreffen, denn das ist eine andere Dimension. Es gibt zwei Arbeiten, die ich mit Frau Professor de la Motte-Haber durchgeführt habe, aber das sind einfach Begegnungen, keine systematischen Zusammenhänge.“ Die Psychoakustik liefert für die Musik zwar die Grundlage der Wahrnehmung und ist daher auch für viele Studierende aus der Musik interessant. “Aber letztlich können wir die Musik nie genau treffen. Es gibt nicht die gesteuerte Verbindung zur Kunst. Überhaupt nicht,” gibt Schulte-Fortkamp zu bedenken.
Könnte die Berechenbarkeit wissenschaftlicher Phänomene demnach als ein Abgrenzungskriterium gesehen werden? Wird wissenschaftlich berechnet, was in der Kunst in kreativen Ausdrucksformen und damit auf einer völlig anderen Ebene umgesetzt wird? In der Psychoakustik wird deutlich, dass diese Berechenbarkeit manchmal selbst in den Wissenschaften an ihre Grenzen stößt und mehr Ideal als funktionierendes Werkzeug ist: “Wir können ja alles berechnen. Wir können auch Prognosen machen. Aber die Prognosen haben nie gestimmt. Nicht weil wir falsch gerechnet hätten, sondern weil diese Intervention durch die subjektive Wahrnehmung so nicht erfassbar ist.” In der Psychoakustik versucht man daher herauszufinden, was die Bewertungszusammenhänge in Bezug auf Geräuschsituationen sind.
Diese Bewertungszusammenhänge werden wiederum anhand etablierter Methoden aus der Psychologie und Soziologie systematisch erforscht und statistisch validiert. Obwohl die subjektiven Reaktionen auf Lärmquellen nicht streng berechenbar sind, tut sich damit zumindest methodisch keine Grauzone zu den Künsten auf. Eine solche Grauzone mag es höchstens in Bezug auf die graphischen Erzeugnisse beider Gebiete geben: “Ich könnte sagen: wegen der graphischen Umsetzung von Klang sind unsere Motive ähnlich. Allerdings ist diese graphische Umsetzung bei uns systematisch erzeugt durch eine Software.” Dennoch räumt Frau Schulte-Fortkamp ein, dass diese graphische Umsetzung durchaus auch als Komposition gesehen werden kann: “Es ist im Grunde eine akustische Komposition. Zum Beispiel wenn ich das Bild ‘5th Avenue’ nenne. Das ist auch gut angekommen bei Ausstellungen oder bei Tagungen.”
- © Andreas Pein
- © Andreas Pein
- © Andreas Pein
- © Andreas Pein
- © Andreas Pein
- © Andreas Pein
© Sibylle Anderl und WissensARTen, 2014. Inhalte dieser Webseite sind urheberrechtlich geschützt. Die Vervielfältigung von Informationen oder Daten, insbesondere die Verwendung von Texten, Textteilen, Bildmaterial oder Audio- oder Videodateien, bedarf der vorherigen Zustimmung der Autorin.