Treffen mit Jorinde Voigt

© Andreas Pein

“Das Ereignis selbst ist paarweise angelegt und in verschiedenen Mustern geschrieben. Man schreibt alle Möglichkeiten auf, bis sie alle nebeneinander stehen. Das Ganze ist außerdem als Loop beschrieben. Dadurch ergibt sich so etwas wie eine Interferenz: auf einer ganz minimalen Ebene entsteht da ein Rhythmus.” Jorinde Voigt sitzt an der Küchenzeile ihres großzügigen Atelier-Bungalows in einem Hinterhof in Berlin Alt-Treptow und erläutert auf einem Blatt Papier den Algorithmus, der ihren Arbeiten zum “akustischen Impuls” zugrunde liegt. Wenn man Voigts Werke auf den ersten Blick sieht, die grazilen Bögen und Linien, die sich in kraftvoller Dynamik über ihre großformatigen Leinwände ziehen, vermutet man vielleicht nicht unbedingt, auf welch komplexem, konzeptuellem Fundament die Bilder ruhen. Wenn man dann aber die sorgfältigen Beschriftungen entziffert, “Distanz”, “Rotationsgeschwindigkeit”, “Zeitraum”, “Windrichtung”, und sich einlässt auf die bedächtigen Erklärungen, die von Voigt Schritt für Schritt entwickelt werden, merkt man, dass es in den Bildern um sehr viel mehr geht, als um oberflächliche Ästhetik.

Tatsächlich erscheinen Voigts Werke als Resultate und Endpunkte eines Erkenntnisprozesses, an dessen Anfang sehr universelle Fragen stehen: “Was ist das eigentlich alles in der Welt, was mich umgibt? Die Frage ist ja heute noch die gleiche: Warum ist das so? Aber nicht so sehr im wissenschaftlichen Sinne von ‘Was ist das Ergebnis?’, sondern bei mir ist vielmehr der Erkenntnisprozess die Zeit des Tuns”, beschreibt Voigt die Motivation ihrer Arbeit. Die Themen, mit denen sie sich beschäftigt, findet sie dabei typischerweise in ihrem persönlichen Lebenskontext: angeregt durch Bücher, die sie liest, beispielsweise Autoren wie Roland Barthes oder Niklas Luhmann, motiviert durch Erfahrungen, die sie macht, zum Beispiel die unserer permanenten Einbettung in Raum und Relationen. Oft ergeben sich auch neue Themen aus alten Arbeiten, wenn sich interessante Nebenaspekte eines bereits behandelten Themas dafür anbieten, Anlass für eine eigene, tiefergehende Untersuchung zu geben.

Für jedes Thema setzt Voigt sich daraufhin einen neuen, besonderen Algorithmus und legt eine Struktur fest, nach der das Werk entsteht, innerhalb dessen aber dennoch Raum ist für kreative, spontane Entscheidungen: “Zum Beispiel wenn es darum geht, dass zwei Punkte einen Bezug haben, man aber nicht auf eine Konvention zurückgreifen möchte, was zum Beispiel der Fall wäre wenn man einfach eine gerade Linie zieht. Stattdessen sagt man, dass jede mögliche Art der Verbindung richtig ist, und das ist dann Teil des Algorithmus: die Linie zu ziehen auf irgend eine spontane Art.” Die entsprechenden Informationen werden vollständig offen gelegt und sollen sicherstellen, dass der Betrachter den Schaffensprozess und die Eigenlogik der Werke nachvollziehen kann: “Es ist mir sehr wichtig, dass der Prozess durchsichtig bleibt. Zum Beispiel indem alles beschriftet ist, um was es da geht, und dass ganz klar ist, dass es ein Denkmodell und nicht eine reine künstlerische Zeichnung ist. Mit Zeichnungen habe ich eigentlich gar nichts zu tun, es ist letztendlich nichts anderes als eine exaltierte Art von Schreiben.”

© Andreas Pein

© Andreas Pein

Dem Prozesscharakter von Voigts Arbeiten kommt besondere Relevanz zu. Die zeitbasierte, nicht revidierbare Entwicklung und Schaffung eines Werkes ist zentraler Bestandteil des ablaufenden Verständnisprozesses, innerhalb dessen immer wieder rückversichert wird, was “funktioniert” und was nicht, das heißt was im Sinne der Ursprungsidee ist und was im Gegenteil vom Gedanken weg führt. Gleichzeitig eröffnet die visuelle Darstellung verglichen mit dem eindimensional in der Zeit ablaufenden, theoretischen Verstehen wie es beispielsweise beim Lesen eines Artikels vorliegt, eine zusätzliche Möglichkeit, mit der Komplexität des zu verstehenden Phänomens umzugehen: “Das, was ich mache ist ja letztendlich, viele Dinge nebeneinander aufzuschreiben, die ich nicht gleichzeitig in der Lage bin zu denken. Aber ich bin in der Lage, eins nach dem anderen zu denken. Auf dem Papier mache ich die Dinge in der Gleichzeitigkeit sichtbar und kann sie plötzlich sehen. Über das Auge lässt sich vielleicht etwas daran ableiten, was Aufschluss gibt über spezifische Charakteristika dessen.”

Die Wahrnehmung und Erzeugung von Klängen und Geräuschen, Rhythmen und Melodien, findet sich umgesetzt in graphische Partituren in vielen von Voigts Werken. Auch dieser Themenkomplex ist in ihrer eigenen Biographie verwurzelt: Jorinde Voigt genoss während ihrer Jugend eine intensive klassische Musikausbildung an Klavier und Cello. Die Strenge und die damit verbundenen Zwänge dieser Ausbildung verhinderten zwar letztendlich, dass Voigt die Musik zu ihrem Hauptlebensinhalt machte. Gleichzeitig eröffnete sich so für sie aber die Innenperspektive auf die internen Funktionsweisen von Musik, auf die Zeitlichkeit, Dynamik, Theorie und Emotionalität des Transformationsprozesses geschriebener Partituren in immer wiederholbare und doch jeweils einmalige Aufführungen: “Dadurch, dass ich sehr viel Musik gemacht habe, ist dieser Transkriptionsprozess für mich etwas Normales. Wie man Musik empfindet wenn man sie spielt. Das, was sich da transportiert in der Partitur, diese Zusammenhänge, diese Motive, überhaupt dieses nie auf die gleiche Art wiederholbare Erleben. Dass es dafür eine Schreibweise gibt, die dazu immer neu Anlass geben kann in spezifischer Art und Weise, das ist eine Erfahrung, die sehr hilfreich war.” Die aus der Musik bekannte Variation von Motiven, das orchestrale Zusammenspiel verschiedener musikalischer Einzelaspekte, die Erzeugung und das Halten von Spannungen sind Aspekte, die Voigt in ihren Werken schließlich aus der Musik in die bildende Kunst transferierte.

© Andreas Pein

© Andreas Pein

Gleichzeitig thematisierte sie diesen musikalischen Transformationsprozess von der Partitur zum musikalischen Erlebnis aber auch explizit in einer ihrer Arbeiten, der Serie “Beethoven Sonate 1-32”. Diese Arbeit ist einer der seltenen Fälle, in denen das Thema von außen an Voigt herangetragen wurde. Ein Freund hatte Jorinde Voigt gebeten, für das Luminato Festival in Toronto eine Arbeit zu Beethoven anzufertigen. “Ich habe bestimmt sechs, sieben Monate gebraucht, um zu überlegen, was an den Beethovensonaten ein Thema sein könnte, das auch mein Thema ist. Irgendwann kristallisierte sich als Startpunkt heraus, dass ja grade die Musik von Beethoven ganz besonders ist im Sinne seines unglaublich breiten, emotionalen Spektrums.” Um zu verstehen und darzustellen, wie dieses emotionale Spektrum anhand der musikalischen Notation vermittelt wird, analysierte Voigt daraufhin die Partituren aller Sonaten, extrahierte Satzbezeichnungen, Tempoangaben, Taktarten und Vortragsbezeichnungen. Diese Listen musikalischer Bezeichnungen wurden dann in intuitiv gesetzten Linien zu Achsen des zeitbasierten musikalischen Erlebens in Beziehung gesetzt. Auf diese Art ergibt sich für jede Sonate graphisch eine andere dynamische Struktur, in der die jeweilige emotionale Strecke der Sonate sichtbar gemacht werden soll. Das in der Zeit ablaufende, musikalische Werk wird dabei in eine visuelle Gleichzeitigkeit transferiert. Dennoch bleibt darüber hinaus etwas Unergründliches, das nicht theoretisch sondern nur im Hören der Musik erfahren werden kann: “Es ist ja unfassbar, was das heisst, dass diese Partitur so eine Erfahrung in die heutige Zeit transportieren kann. Es ist eine Art von Erkenntnis, vielleicht sogar eine psychische, die man sonst vielleicht über Religiösität vermittelt bekommen würde. Beethoven vermittelt einem so etwas ohne ein Wort, nur über Musik. Wirklich unglaublich.”

Eine der frühesten Werkserien, die sich, jenseits der Musik, konkret mit akustischen Umgebungen auseinander setzt, entstand 2003 auf einer Reise Jorinde Voigts in Indonesien: “Ich saß an einer Strassenecke und habe die Frequenz von Ereignissen notiert. Es ging erstmal darum, gar nichts zu wollen sondern nur eine Bestandsaufnahme zu machen: Was gibt es hier, aus was besteht die Situation? Anhand dessen habe ich entdeckt, dass es sehr interessant ist, in welcher Frequenz die Dinge auftauchen und dass dies eine Beschreibung der Sache bewirkt, die auch helfen kann, die Situation zu verstehen.” In ihren Graphiken tauchen entsprechend Schwärme von Mopeds, Autos, oder surrende Stromgeneratoren in beschrifteten Soundkurven auf, zusammen mit der Beschreibung anderer Ereignisse, die eine Wirkung auf die Gesamtsituation haben, wie z.B. ein am Vortag ausgerufener Bombenalarm. Die realen Soundsituationen werden somit in wissenschaftlich anmutenden Partituren eingefangen, die anders herum wieder Anlass zu deren späterer Rekonstruktion geben können. In Zusammenarbeit mit verschiedenen Komponisten wurden diese Werke Voigts tatsächlich nachträglich auch vertont und zu einer CD verarbeitet: “Mich hat daran interessiert, was das für Lesarten erzeugt, und es hat mich gefreut dass es so viele unterschiedliche waren.” Voigts Freude an unterschiedlichen Lesarten demonstriert, dass es ihr in ihren Werken keineswegs darum geht, eine möglichst objektive Dokumentation des Gegebenen zu erreichen, der formierende Einfluss der künstlerischen Perspektive ist immer mitgedacht: “Wenn ich etwas zu verstehen versuche, konstruiert sich natürlich auch etwas. Einerseits hat das schon einen analytischen Ansatz, anderseits ist es auch im gleichen Moment eine Konstruktion.”

© Andreas Pein

© Andreas Pein

Diese bewusste Einbeziehung aller in der Arbeit wirkenden Parameter, wie etwa der Intuition und des momentanen Zustands des Künstlers, vor deren Hintergrund der Anspruch von Objektivität fragwürdig erscheint, ist nach Voigt etwas, das die Kunst von der Wissenschaft unterscheiden mag. Dass sie selbst in der Kunst und nicht etwa der Wissenschaft ihren Fragen nach dem Wesen der Dinge nachgeht, hat aber noch andere Gründe: “Ich bin in der Kunst gelandet, weil es das einzige Feld ist, in dem eine Struktur besteht, in der ich das machen kann was ich mache. In dem ich auch die Interessenten, das Publikum finde, das offen ist für diese Fragestellungen.” Dabei hatte sie zunächst durchaus versucht, Antworten im Rahmen einer akademischen Laufbahn zu finden: “Ich habe auch angefangen, Philosophie, Soziologie und Literatur zu studieren. Erst in Göttingen, dann in Berlin. Ich habe es dann aber abgebrochen, weil ich gemerkt habe, dass ich nicht weiterkomme, wenn ich nur schreibe und lese. Denn ich hatte das Gefühl, wenn es um die Arbeit mit der Welt geht, müssen mir auch alle Mittel zur Verfügung stehen. Dann kann es nicht nur das Schreiben sein. Und insbesondere nicht das Schreiben, so wie es im universitären Kontext erwartet wurde.” Es ist interessant zu sehen, dass Elemente wie philosophische Schriften und naturwissenschaftliche Konzepte, die man aus einem universitären Kontext kennt, nach wie vor Voigts Werke durchziehen und als Referenzen in einem neuen Kontext wirksam werden. Und manchmal scheinen sich daraus direkte Berührungsflächen zu den Wissenschaften zu eröffnen, beispielsweise in der graphischen Umsetzung musikalischer Erlebnisse oder indonesischer Soundscapes.

Werke von Jorinde Voigt sind vom 8.11. – 20.12. in der Galerie Johann König in Berlin zu sehen. Die Ausstellungseröffnung findet am 7.11. ab 18h statt.

Mehr zum Thema:
Blog: Der Hintergrund des Treffens
Das Interview in voller Länge [erscheint in Kürze]
Slideshow, bitte klicken:

© Sibylle Anderl und WissensARTen, 2014. Inhalte dieser Webseite sind urheberrechtlich geschützt. Die Vervielfältigung von Informationen oder Daten, insbesondere die Verwendung von Texten, Textteilen, Bildmaterial oder Audio- oder Videodateien, bedarf der vorherigen Zustimmung der Autorin.

Ein Kommentar

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.