Treffen mit Leonhard Schilbach

© Andreas Mueller

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Der Mensch ist ein rätselhaftes Wesen. Einen Großteil unseres Lebens verbringen wir damit, bewusst oder unbewusst zu entschlüsseln, was in unseren Mitmenschen oder auch uns selbst vor sich geht. Wie fühlt sich mein Gegenüber gerade? Was erwartet er jetzt von mir? Was hat sie wohl mit ihrer Aussage gemeint? “Man kommt kaum aus dem Haus, ohne soziale Wahrnehmung und soziale Kognition zu betreiben. Das sind Dinge, die den allermeisten Menschen ganz selbstverständlich vorkommen”, berichtet Leonhard Schilbach, Psychiater und Neurowissenschaftler am Münchener Max-Planck-Institut für Psychiatrie.

Während die meisten Menschen im Alltag kaum darüber nachdenken müssen, wie flüssiger, sozialer Austausch mit anderen funktioniert, ist dies anders für Menschen mit psychischen Erkrankungen, die oft mit Störungen der sozialen Interaktion einhergehen. Schilbach interessiert sich insbesondere für Menschen mit Autismus, bei denen ein Mangel an sozialen Kompetenzen oft dazu führt, dass sie früher oder später massiv mit sozialen Konventionen in Konflikt geraten. Sobald man aber versucht, Autisten zu erklären, wie sie sich in sozialen Interaktionen erwartungskonform verhalten sollen, wird deutlich, dass diese Interaktionen meistens nicht Regeln im engeren Sinne folgen. Stattdessen wird unser sozialer Umgang miteinander größtenteils durch implizite Vereinbarungen und Konventionen geleitet, die für Menschen mit Autismus nur schwer zu erfassen sind. “Autisten denken dann: Da ist ein Problem, darüber muss ich nachdenken. Aber das Interessante ist, dass Nachdenken hier gar nicht hilft. Das ist so wie beim Fahrradfahren oder beim Zubinden von Schuhen. Diese Dinge werden dadurch nicht besser, dass ich gleichzeitig über sie nachdenke”, beschreibt Schilbach.

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Trotzdem haben sich die Neurowissenschaften in der Frage, wie unsere soziale Wahrnehmung funktioniert, zunächst vor allem darauf konzentriert, das Verstehen unserer Mitmenschen aus der unbeteiligten Beobachterperspektive heraus zu erforschen. Die Strategie, den mentalen Zustand anderer Menschen theoretisch reflektierend aus deren Verhalten abzuleiten, ist uns allen vertraut: wenn wir komplexes Verhalten vorherzusagen versuchen, wägen wir verschiedene mögliche Gründe, Motive und Risiken gegeneinander ab. Diese theoretische Perspektive nehmen wir insbesondere in Situationen ein, in denen implizite, automatisierte Mechanismen nicht mehr funktionieren und unser intuitives Verstehen an Grenzen stößt. Eine andere Strategie wenden wir an, wenn wir eigene mentale Zustände auf andere Menschen projizieren, so dass wir auf dieser Grundlage deren Verhalten nachvollziehen und vorhersagen können. Wenn man nun in einem Kernspintomographen  die Hirnprozesse von Testpersonen betrachtet, die theoretisch reflektierend oder empathisch mitfühlend über andere Menschen nachdenken, erweisen sich für diese Mechanismen vor allem zwei Gehirnnetzwerke als relevant: Das Spiegelneuronen-System und das Mentalisierungsnetzwerk.

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Nicht abgedeckt werden mit diesem Ansatz aber Aspekte sozialer Wahrnehmung, die auf der Interaktion mit anderen Menschen beruhen. Dass dieser Aspekt in den Neurowissenschaften erst in jüngster Zeit Beachtung gefunden hat, hat dabei nicht zuletzt mit dem methodischen Problem zu tun, dass halbwegs realistischer, sozialer Austausch zwischen verschiedenen Menschen im Gehirnscanner schwer zu realisieren ist. Hier methodisch neue Wege zu finden, um erforschen zu können was im menschlichen Gehirn vor sich geht wenn Menschen mit anderen Menschen in Kontakt treten, ist eine Herausforderung, der sich Leonhard Schilbach in seiner Forschung verschrieben hat. Von der Wichtigkeit dieses neuen Ansatzes ist er überzeugt: “Wenn man sich fragt, ob es für das Hirn einen Unterschied macht, ob Gesichter, die ich anschaue, auf mich reagieren, dann stellt man fest: es macht einen riesigen Unterschied. Menschen reagieren wahnsinnig sensibel darauf, ob eine andere Person sie anguckt.” Das Verstehen anderer anhand von direkter Interaktion scheint dabei entwicklungsbiologisch noch vor dem rationalen Schließen zu kommen. Schließlich kann man schon bei Babys beobachten, wie sensibel sie auf Interaktion reagieren und sich so ihre Welt erschließen, lange bevor sie sich eine “Theorie des Geistes” zurechtgelegt haben oder sich ausreichend selbst reflektieren.

Um soziale Interaktion neurowissenschaftlich zu erforschen zu können, hat Schilbach mit seinem Team eine Methode entwickelt, die auf dem Scannen des Blicks der Testperson beruht. Die Blickrichtung der Testperson kann dann dazu genutzt werden, interaktiv das Verhalten eines Gesichts zu beeinflussen, das der Testperson auf einem Bildschirm präsentiert wird. Mit dieser Methode konnte Schilbach beispielsweise nachweisen, dass Personen es als angenehmer empfinden, wenn sie eine Beobachtung mit jemand anderem zusammen machen, ein Phänomen das als “geteilte Aufmerksamkeit” bezeichnet wird. Besonders stark spricht das neuronale Belohnungssystem dann an, wenn die Blickrichtung einer anderen Person aktiv auf etwas gelenkt wird. Soziale Interaktion anhand des Austausches von Blicken zu studieren, erscheint dabei als ein nahe liegender Ansatzpunkt. “Ich persönlich glaube, dass es kaum etwas wichtigeres für soziale Interaktion gibt als das Blickverhalten”, so Schilbach. Gleichzeitig sind diese alltäglichen, persönlichen Interaktionen aber gerade diejenigen Situationen, in denen beispielsweise Autisten immer wieder scheitern, während sie Aufgaben, die das Verstehen anderer aus der Beobachterperspektive betreffen, oft erstaunlich gut meistern.

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Als ein künftiges Ziel seiner Forschung sieht Schilbach die Entdeckung von objektiven Kriterien, die auf der Grundlage der Hirnstruktur eindeutige Diagnosen in Bezug auf psychische Erkrankungen ermöglichen und Anhaltspunkte für wirksame Therapien liefern könnten.
Wenn man zum Beispiel bei psychisch Kranken charakteristische Veränderungen in den Hirnregionen feststellen könnte, die für die soziale Wahrnehmung und Interaktion eine wichtige Rolle spielen, könnte man diese als Parameter nutzen um darüber zu entscheiden, welche Therapie für einen bestimmten Patienten die beste ist.

Bloße Gehirnscans werden aber wohl dennoch nie ausreichen, um Menschen im Allgemeinen und psychische Erkrankungen im Besonderen zu verstehen. Man braucht immer auch den Bezug auf den größeren sozialen Kontext, nicht zuletzt deshalb, da die Definition einer Krankheit, die sich in nicht-normalem Verhalten äußert, immer den Bezug zum “Normalen” voraussetzt: “Ohne die Kenntnis von einem sozialen und kulturellen Kontext kann man überhaupt nicht bestimmen, wer verrückt ist”, gibt Schilbach zu bedenken, “Ich würde mich zwar als Anhänger der biologischen Psychiatrie bezeichnen, aber mit der Einschränkung dass man über das Gehirn hinausgehen muss.”

Die intensive Arbeit und Auseinandersetzung mit Menschen ist etwas, das sich Schilbach als eine Parallele zur fotografischen Arbeit vorstellt: “Mich fasziniert, wie Frau Koelbl es schafft, eine bestimmte Facette einer Person im Bild festzuhalten. Vielleicht hat das auch damit zu tun, dass sie Menschen in der Interaktion leiten kann, bestimmte Saiten an ihnen zum Klingen bringt. Und so etwas ähnliches macht man als Psychiater natürlich auch.”

 

Videoportrait Leonhard Schilbach: