Treffen mit Katrin von Lehmann

© Andreas Pein

Sie ziehen sich als sanfte Schleier über blauen Himmel, türmen sich in die Atmosphäre auf wie riesenhafte Festungen, die sich in apokalyptischen Gewittern entladen können, oder liegen tief wie ein grauer Vorhang über der Landschaft. Wolken bestimmen unser Leben, unsere Stimmung, unsere Aktivitäten, nicht zuletzt einen großen Teil unserer Alltagskommunikation. In ihrer Flüchtigkeit, ihrer permanenten Veränderung, Entwicklung, scheinbaren Greifbarkeit und gleichzeitig völliger Unnahbarkeit haben die Wolken auch Generationen von Künstlern in ihren Bann gezogen. Insbesondere die Romantiker des 19ten Jahrhunderts, wie William Turner oder Caspar David Friedrich, waren fasziniert davon, den im ständigen Wechsel begriffenen Himmel auf der Leinwand einzufangen und in Wolkenstudien malerisch festzuhalten. Der Einfluss der Wolken zu dieser Zeit beschränkte sich aber nicht nur auf die Kunst. Auch in der Wissenschaft markiert das 19te Jahrhundert den Beginn systematischer Wetterforschung. Im Jahr 1803 veröffentlichte der Engländer Luke Howard seine Studie “On the Modification of Clouds”, in der die Wolken in drei Grundformen mit verschiedenen Zwischenformen eingeteilt wurden: Cirrus (Federwolke), Cumulus (Haufenwolke) und Stratus (Schichtwolke). Auch heute findet man diese Klassifikation in erweiterter und verfeinerter Form innerhalb der Meteorologie bei der Beobachtung und Beschreibung von Wolken.

© Andreas Pein

© Andreas Pein

Es ist dieser wissenschaftlich-klassifizierende Umgang mit den Wolken, der die in Berlin ansässige Künstlerin Katrin von Lehmann dazu inspiriert hat, zum Thema Wolken zu arbeiten: “Es war nicht so, dass ich ein Thema mit oder über Wolken machen wollte, sondern ich bin dazu aufgrund eines Besuches in einem meteorologischen Observatorium gekommen.” Im Meteorologischen Observatorium Lindenberg in Brandenburg erlebte sie 2009, wie jede halbe Stunde die zu diesem Zeitpunkt am Himmel zu sehenden Wolken anhand ihrer lateinischen Klassifikationsbezeichnungen in einem sogenannten Wolkentagebuch festgehalten wurden. Obwohl diese Tätigkeit heute prinzipiell auch automatisiert anhand von Wolkenscannern durchgeführt werden könnte, ist dabei der menschliche Beobachter und dessen “Augenbeobachtung” erheblich zuverlässiger. “Menschliche Handlungen werden heute ja immer mehr ersetzt durch technische Geräte. Daher fand ich es höchst erstaunlich, dass die Wolkenklassifizierung mit Augenbeobachtung gemacht wird, und so wissenschaftliche Daten erzeugt werden”, beschreibt von Lehmann.

Tatsächlich ist das menschliche Vermögen des Einordnens von Komplexem in Typen und Kategorien nach wie vor technisch kaum zu schlagen. Es ist einer der grundlegendsten Prozesse menschlicher Welterschließung, das Irreguläre, Besondere, Einmalige unter allgemeine Begriffe zu bringen. Der große Erfolg der Wissenschaften hat nicht zuletzt auch damit zu tun, dass hier besonders universell gültige und effektive Klassifikationssysteme entwickelt wurden, die eine Ordnung in die chaotisch scheinende Komplexität unserer Welt zu bringen vermögen. “Mich interessiert insbesondere die Frage, wie Naturphänomene von Wissenschaftlern übersetzt werden”, fasst von Lehmann diesen Punkt zusammen. In ihrer Arbeit “Augenbeobachtung” verfolgt sie diesen Prozess zum einen nach, zum anderen kehrt sie ihn um und bricht ihn damit auf.

© Andreas Pein

© Andreas Pein

Genau wie die Wolkenbeobachter begann auch von Lehmann mit der Beobachtung, allerdings war das Beobachtungsobjekt in ihrem Fall nicht der Himmel, sondern die Wolkenaufzeichnungen, die im Observatorium Lindenberg in der Dokumentation jeweils eines Monats entstanden waren. Die lateinischen Begriffe wurden daraufhin von ihr intuitiv, ohne einen notwendigen Bezug zu den klassifizierten Wolken, in Zeichnungen übersetzt. Die daraus resultierenden, einen Wettermonat repräsentierenden Zeichnungen wurden schließlich gefaltet und chronologisch übereinander geschichtet. Dieser materielle Verdichtungsprozess soll damit für die finale künstlerische Arbeit auch eine inhaltliche Verdichtung erzeugen. Die Wolkenklassifikation als Ausgangspunkt wird im Schaffensprozess der “Augenbeobachtung” kurzzeitig in den kaum begrenzten Raum intuitiver Assoziation hinein überwunden. Die individuelle Vielfalt der resultierenden Zeichnungen verschwindet schließlich durch die Schichtung aber wieder im abstrakten Schwarz-Weiß der Querschnitte.

So wie in der regelmäßigen Anwendung wissenschaftlicher Klassifikationen auch, spielt der Aspekt der Wiederholung für von Lehmanns Arbeiten eine große Rolle: “Oft bringt ja Wiederholung etwas Neues: Es entsteht immer eine kleine Veränderung, eine Variation und diese Variation wirft neue Fragen auf, neue Ideen. Was ist eigentlich mit den sogenannten Fehlern? Die finde ich sehr wichtig. Vielleicht stellen sie mein selber gewähltes System in Frage.” Starre Algorithmen und klar definierte Systeme tragen insofern immer auch den Keim zu ihrer kreativen Überwindung in sich.

© Andreas Pein

© Andreas Pein

An der Frage, wie der menschliche Drang zur Klassifizierung einzuschätzen ist, haben sich allerdings seit je her die Geister geschieden. Der naturwissenschaftlich engagierte Johann Wolfgang von Goethe nahm Howards Wolkenklassifikation beispielsweise so begeistert auf, dass er ihr sogar ein Gedicht widmete. Man kann fast eine gewisse Erleichterung aus den Zeilen lesen darüber, dass endlich eine Ordnung im Wolkenchaos gefunden werden konnte: “Er aber, Howard, gibt mit reinem Sinn/ Uns neuer Lehre herrlichsten Gewinn./ Was sich nicht halten, nicht erreichen lässt,/ Er fasst es an, er hält zuerst es fest.” Caspar David Friedrich hingegen, der von Goethe um die Anfertigung von Wolkenstudien gemäß der Howard’schen Klassifikation gebeten worden war, weigerte sich, die Natur dermaßen in ein Schema zu pressen. Diese Kontroverse führt weitergedacht in eine letztendlich philosophische Frage, die wiederum auch auf die schwere Automatisierbarkeit der Wolkenbeobachtung zurückweist: Bilden unsere Klassifikationen eine Ordnung ab, die von uns unabhängig in der Welt existiert? Oder verdeutlichen theoretische Klassifikationen vielmehr die Art und Weise, wie wir als Menschen auf die Welt schauen?

Diskussionen wie diese anzuregen, sieht von Lehmann als grundlegende Aufgabe von Kunst an. Nach dem Abitur hatte sie durchaus in Betracht gezogen, Meteorologie zu studieren, bevor sie sich dann doch für ein Kunststudium entschied. Ihre Arbeit heute sieht sie zwar auch als eine Art des Forschens, allerdings ohne dass der Schwerpunkt auf dem Finden von Antworten liegen würde: “Ich sehe einen großen Unterschied zur wissenschaftlichen Arbeit. Die Wissenschaftler versuchen, dauerhafte Antworten auf Lebensphänomene zu geben. Ich sehe die künstlerische Arbeit eher als Öffnung, in dem Sinne, dass Fragen gestellt werden.”

 

 

Videoportrait Katrin von Lehmann